ZEITSCHRIFT NESTWERK

Mein Freund Kohelet

 

Manchmal, wenn ein neuer Tag geboren wird und der Lärm noch schläft, treffe ich ihn, unten an der Flusseiche, in Gedanken versunken. Kohelet, mein Freund, liebt das lebendige Wasser.

Er sagt, viele Geschlechter sprächen im Fluss, und jeder Tropfen ,

habe sein Ziel und alle seien geborgen in einem, der alle umfasse. Lange schweigt er, dann redet er, wie im Traum, zum Fluss hin: Lebst du auch viele Jahre, so freue dich doch ihrer aller, denn keines ist wie das andere und keines kehrt zurück. Denk daran, dass der Tage des Dunkels viele sein werden. Alles was kommt, hat sein Ende.

Freue dich in deiner Jugendzeit, lass froh den Sinn dir sein in deinen jungen Tagen! Geh wohin dein Herz dich zieht und deine Augen dich locken! Wisse dabei, dass all dies in deiner Verantwortung liegt. Banne den Ärger aus deinem Sinn und halte das Übel dir vom Leib! Denn die Jugend und das Alter der schwarzen Haare gehen dahin, sie kommen nicht wieder.

Denk an die Liebe in allem in den Tagen deiner Jugend und öffne deine Augen, ehe die bösen Tage kommen und die Jahre sich nahen, von denen du sagen wirst: sie gefallen mir nicht; ehe die Sonne dunkler wird und das Licht und der Mond und die Sterne, und ehe die Wolken nach dem Regen wiederkehren; wenn die Wächter des Hauses zittern und die starken Männer sich krümmen; wenn die Mahlmägde nicht mehr arbeiten, weil der Tag sich verdunkelt in den Fenstern; wenn die Tore nach draußen sich schließen und der Laut der Mühle leiser wird; wenn der Gesang der Vögel innehält und alle Lieder schweigen; wenn man sich fürchtet vor der Anhöhe und auf dem Weg in Schrecken geht; dann blüht der Mandelbaum, das Heupferd ist satt, der Kapernstrauch gibt seine Frucht, und die Enkel kommen zur Welt, während du in dein ewiges Haus gehst. Stehn auf der Straße nicht schon Klagefrauen? Ehe der silberne Strick zerreißt und der goldene Leuchter zerspringt und der Krug an der Quelle zerschellt und das Rad am Brunnen zerbricht und der Staub zur Erde zurückkehrt, wie er war, und das Leben zurückkehrt zu dem, der es gegeben. Vergänglich ist es, vergänglich, wie alles.

Es zerfließt in deinen Händen, und kaum denkst du zurück, ist es vorbei, und niemand fragt, was alles du noch tun wolltest. Wozu zählst du dein Silber, dein Gold? Es schüttelt den Kopf über deinen Wahn. Warum wünschst du ein Grab, einen Stein? Du wirst alles vergessen, und alles wird dich vergessen. Wie vieler Gebeine gälte es zu gedenken? Hast du nicht dein Leben gelebt? Lass deine Nachkommen das ihre leben.

Du warst nicht bereit? Freund, nur eine Handvoll von Menschen ist bereit, obgleich jeder von ihnen die Gräber sieht und oftmals an der Schwelle steht, von der er weiß, sie führt hinüber.

Du bittest um einen letzten Versuch? Mein Freund, wie viele Stunden, wie viele Tage, wie viele Jahre wurden dir gewährt? Wieviel Zeit, geschenkt zum Nachdenken, zur Besinnung, zum Leben hast du gehabt? War es nicht genug, an Woher, Weshalb und Wohin zu denken, zu danken für all die erfahrene Liebe, das Durchstehen von Leid? Wieviel wurde dir geschenkt! Bedenke nun, was war dein Leben?

Er schweigt und neigt den Kopf, so als lausche er. Und auch ich neige den Kopf und lausche. Und siehe da, ganz leise höre ich die Stimme, meine Stimme, die erzählt, die mein Leben erzählt. Und sie trennt die Spreu der vertanen Tage vom Weizen der erfüllten Tage. Und ich erkenne: die Ernte ist gering. Schon steigt tiefe Traurigkeit herauf, als Kohelet, mein Freund, mich sanft berührt:
Dein Tropfen ist noch unterwegs; dich frage ich nicht, was war dein Leben, sondern was ist dein Leben?

Als ich nach Hause, gehe steigt Nebel auf.

Michael Meißner

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