ZEITSCHRIFT NESTWERK

Melia

Niemand weiß, warum du mit Schäden an Herz, Darm und Leber geboren wurdest. In die Freude um dein Leben mischte sich so von Anbeginn der Schmerz.

Deine Eltern begleiteten dich, ihr ersehntes Erstgeborenes, von Klinik zu Klinik. So oft dein Vater von seiner Arbeit weg konnte, besuchte er dich, und so oft deine Mutter konnte, pendelte sie zwischen deiner Heimatstadt und München. Ich lernte dich kennen, als mich deine Eltern baten, dich zu taufen.

Da lagst du mit deinen großen schwarzen Augen, der lebergelben Gesichtsfarbe und jenem Blick, der alles Unwesentliche beiseite schob: Begegne mir, ich warte darauf, aber laß all das Theaterspiel: sieh, ich lebe, ich kämpfe und leide. Es bleibt nur Kraft für Wahrheit, keine Zeit für Lügen.

Von weit her kamen deine Großeltern und Tanten zu deiner Taufe. Deine Eltern hielten dich schön gewandet in ihren Armen und du warst aufmerksam dabei. Wir beteten, ich taufte dich, wir schlossen einen Kreis um dich und waren uns nah. Wir wussten dich so unter dem Schutz Gottes, der uns ein guter Vater und eine gute Mutter ist und dessen Licht und Wärme uns in allen Dunkelheiten weiterhelfen will.

Acht Wochen Zeit mit dir hast du uns zur Überraschung der Ärzte danach noch geschenkt. Mehr und mehr lernte ich dich kennen: an schlechten Tagen, an denen dich Schmerzen stundenlang wimmern ließen, und an besseren Tagen. Erinnerst du dich an jene schöne Stunde, als du mit meinem Finger in deiner Hand ruhig wurdest und einschliefst? Und mich - den Kopf neben dir auf deinem Bettchen - mitnahmst in deinen Schlaf? Meine liebe, kleine Freundin: ohne je ein Wort gesagt zu haben, warst du mehr da als viele von uns.

Die Klinik piepste mich nicht an, als du eines Nachts hinübergingst in eine andere Welt. Du wusstest schon vorher mehr als ich, wie viel noch mehr weißt du jetzt. Deine Tränen weinten deine Eltern weiter: Wie kann es sein, dass ein Kind vor seinen Eltern sterben soll? Die schreckliche Ohnmacht, die Trauer, dir die Welt draußen nie zeigen zu dürfen, nie deine Stimme und dein Lachen zu hören. Und erst nach deinem Tod endlich ein Bild von dir ohne Schläuche im Gesicht und am Körper und endlich frei von Krankenhausräumen! Doch auch: ein Ende deiner Schmerzen.

Die Eltern baten mich, die Beerdigung zu halten, und ich sagte gerne zu. Wieder schlossen wir einen Kreis um dich, diesmal einen großen, langen im Kirchenschiff und mit unseren Kerzen. Am Grab lieh ich dir meine Stimme.

Zweihundertdrei vom Tod bedrängte Tage warst du bei uns, jeden Tag da, wesentlich und ernsthaft. Ich verneige mich vor deinem Leben, Melia, und ich achte das Geheimnis deines "Wozu?". Und , meine kleine Freundin, ich danke dir für das Geschenk deiner Nähe.

Michael Meißner

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