ZEITSCHRIFT NESTWERK

Gedanken beim Osterfrühstück auf Station

Es ist Ostern geworden. Anders als in den Jahren zuvor ist es kalt. Regen und Schnee wechseln sich ab.

Auf unserer Station ist es ruhig genug für ein Osterfrühstück. Auf dem hierfür gedeckten Tisch stehen Osterfladen, Eier und Kaffee.

Ostern hat immer eine besondere Bedeutung für uns, die wir als Schwestern, Pfleger oder Ärzte seit Jahren auf dieser Intensivstation für Kinder arbeiten.

Der Moment des Osterfrühstücks hat etwas Feierliches: Es ist ein Moment der Ruhe und Hoffnung in einer Umgebung, in der der Tod uns gegenwärtiger scheint als an jedem anderen Platz dieser Welt.

Gerade in solchen Momenten werden Erinnerungen, die mich auch sonst ständig begleiten, besonders gegenwärtig: Erinnerungen an Kinder, die dem Tod so nahe waren, wie ich es niemals war, und den Weg ins Leben zurückgefunden haben. Oder auch an Kinder, die der Tod heimgeholt hat.

Bei vielen unserer kleinen Patienten war es uns so erschienen, als ob sie über Tage oder Wochen hinweg von einem zarten Faden gehalten würden, der sie abhielt, in diese unsichtbare, unbegreifliche Welt des Todes hinüber zu wechseln. Ein kleines Stück unseres Antriebs und unserer Hoffnung gründet ja immer auf der vermeintlichen Macht unserer Medikamente und Maschinen. Doch auch sie können nur da ihre Wirkung tun, wo diese Linie zwischen Leben und Tod noch nicht überschritten ist - versetzen können sie diese Linie nicht.

Zwischen all unseren Maschinen, dem Lärm und der Hektik erinnern wir uns an diesem Morgen noch mehr als sonst an die vielen Augenblicke der Nähe und der Freude, die ja auch am Krankenbett entstehen und den, der sie miterlebt, tief berühren.

Wir erinnern uns an Melanie, die einjährig gerade laufen konnte. Bei einem ihrer Laufversuche hatte sie ein Stückchen Holz im Mund. Sie stürzte, und das Holz bohrte sich in die Hinterwand des Rachens. In den folgenden Tagen entwickelte sich in dem verletzten Gewebe eine derart schwere Infektion, daß die Atemwege eingeengt wurden und sich Eitererreger in den ganzen Brustraum ausdehnten.

Die Eltern kamen zu uns mit einem schwerkranken Kind. Die Schwere dieser Erkrankung konnte ihnen natürlich nicht klar sein, denn es war ja nur ein kleines Holzstäbchen, das die Verletzung herbeigeführt hatte.

Melanie mußte an die künstliche Beatmung angeschlossen werden. Und erst jetzt war das ganze Ausmaß der Bedrohung zu erkennen: Dieses kleine Holzstäbchen könnte möglicherweise sogar für den Tod des kleinen Mädchens verantwortlich werden, das erst seit so kurzem gelernt hatte, die Welt auf eigenen Füßen zu erkunden. Diese Erkenntnis traf die Eltern, Bäckersleute von gesunder Statur, wie ein Schlag. Sie waren wie ausgetauscht.

Bei Melanie waren mehrere Operationen notwendig, um alle Eiterhöhlen im Brustraum zu entfernen. Und in der ganzen Zeit war das Kind zu krank, um das Bewußtsein wiederzuerlangen. Bei den Eltern zeugten tiefe Furchen unter den Augen in den blassen Gesichtern von den durchwachten Nächten der Angst und des Kummers. Ihre Stimmen waren gebrochen und bisweilen von Tränen erstickt.

Etwa nach einer Woche gab es dann einen ersten Hoffnungsschimmer: das Fieber ging zurück, der Kreislauf wurde stabiler. Und auch in den folgenden Tagen ging es bergauf. Nach etwa zehn Tagen der künstlichen Beatmung atmete Melanie wieder selbst. Dann war sie , nach insgesamt drei Wochen, wieder kräftig genug, die Augen zu öffnen und mit dem mitgebrachten Spielzeug vorsichtig zu hantieren.

So wie das Leben in den Körper dieses kleinen Mädchens zurückkehrte, so kehrte die lebensfrohe Hoffnung in die Herzen der Eltern zurück. Sie lernten das Lachen wieder.

Eine Spur war jedoch in ihren Gesichtern geblieben. Eine dieser tiefen Falten um die Augen war da noch zu sehen, die ausdrückte: wir haben etwas von der Unbegreiflichkeit des Todes gesehen und von der Unwiederbringlichkeit des Lebens erfahren.

Vor zwei Wochen kam Melanie wieder einmal zu einer der routinemäßigen Kontrollen in die Klinik: voller Elan und frech wie früher vor ihrer Erkrankung kam sie auf Station, um alles Neue zu erkunden. Sie ist ein properes Kind geworden. Von der ehemaligen Bedrohung zeugen nur noch einige kaum sichtbare Narben auf dem Brustkorb.

Die wenigen Minuten, die wir in Ruhe und mit österlicher Feierlichkeit verbringen durften, werden jäh beendet: Das Telefon klingelt - ein Notfall wird gemeldet, und in Windeseile muß der Aufnahmeraum der Intensivstation vorbereitet werden.

Solche Aktivität lenkt uns häufig ab, und der Aktivismus mag uns manchmal die Angst nehmen. Was uns jedoch immer bleibt, sind solche Erinnerungen wie die an Melanie. Erinnerungen, die uns auf ihre Weise Hoffnung auf Auferstehung schenken.

Ein Arzt

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