ZEITSCHRIFT NESTWERK

Besuch bei einem schwerkranken Jungen

Bald wird die Frage ausgesprochen: "Warum bin ich so schwer krank? Warum bestraft Gott mich und meine Familie?" Dann bleiben die Augen geschlossen. Hellwach sind Ohren und Geist, stumm der Mund.

Und ich erahne, was sich in seiner Seele ereignet. Verstandesmäßiges Reden kann ich mir ersparen. Nähe wird gesucht. Sie spürt er und erfährt sie mit allen Sinnen. Die Sprache der Seele ist wortlos. Sie braucht jetzt keinen Ton, keine Silbe. Die tiefsten Kräfte des Menschen beginnen zu schwingen: "Darfst wieder kommen!". Das hat sich tief eingegraben.

Ich höre ihn, ohne Worte: "Du bist bei mir. Du gehörst zu mir. Du kennst meine Not! Du kennst mich! Ich darf sein, wie ich bin. Du nimmst mich ernst. Ich bin nicht allein. Du weißt, um welche Frage sich mein Denken dreht: Gibt es einen Gott? So einen Gott?"

Angst, Todesangst braucht Nähe, sucht Beziehung: Ich bin nicht allein, bin rückgebunden durch lebendige Menschen. Es gibt noch einen Sinn - das Gesicht, die Ruhe, die Zärtlichkeit, das Dabeisein lassen ihn neu erwachen. Getrennte Welten werden zu einer gemeinsamen Erfahrung: Wir leben miteinander, wir leben ja wirklich. Ich gehöre zu deiner Welt, und du darfst bei mir sein. Du brauchst dich nicht zu verstellen. Leg die Maske ab. Tiefen sind Tiefen, und gute Tage sind gute Tage, bei dir wie bei mir.

"Ich war krank, und ihr habt mich besucht!" (Mt 25, 36). Damit ermutigt uns der Mensch Jesus mit seiner göttlichen Nähe. Der direkte Weg führt zum menschlichen Antlitz, in dem sich das Ebenbild Gottes spiegelt. Hier liegt unsere letztgültige Bedeutung, unser menschlicher Auftrag.

"Ihr habt mich besucht!" heißt: Ihr habt uns Zeit gegeben, Raum geschenkt, Leben geteilt, ernst genommen - ihr wart da, ganz. Ich bringe dir mit, was ich habe und was ich bin. Ich schenke dir etwas von unserer gemeinsamen Zukunft. Ich teile mit dir menschliche Geschichte, und ich danke dir für neue Möglichkeiten...

Michael Först

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