ZEITSCHRIFT NESTWERK

Ich sterbe bald

Schmerz zerreißt den Körper des Jungen und reißt seine Augen weit auf: "Ich habe schreckliche Angst, Du verstehst mich doch! Die Metastasen sind wieder gewachsen!" Wir kennen uns, wissen voneinander. Angst, Todesangst braucht menschliche Nähe - und Nähe, die diese übersteigt.

Tagelang bin ich immer wieder bei ihm und darf bei ihm sein. Der Kampf mit den Augen und Sinnen, die Erfahrung von Hoffnung und Ohnmacht. "Weißt, Du gehörst zu meiner Welt und ich zu deiner!" Wohltuend die Pause, die folgt, ich brauch' nichts zu sagen.

Alles verändert sich über die Jahre, alles wird klarer.

Die Heilung nach einer anstrengenden Wallfahrt ist ausgeblieben. Das Elend wird noch existentieller.
Und doch hat sich ein Tor nach oben aufgetan in der Todesnot. Wir erleben an dieser Lebenskreuzung die Krankensalbung als Salbung zur Vollendung des Lebens:
Der Scheitel - alle Gedanken, Wünsche, Sehnsüchte, Enttäuschungen: Du, nimm sie an dich.
Die Augen - alle Blickwinkel, die sichtbaren und unsichtbaren: Du, laß schauen deinen herrlichen Frieden.
Die Nase - der Wohlgeruch, das Gegenteil: Herr, es gehört zu mir.
Der Mund - die guten und schlimmen Worte: Mach' sie zu deiner Aussage.
Die Ohren - spitz und lauschend: Ich vertraue deiner Zusage.
Der Rumpf - der Wechsel des Atems und der Nahrung: Gib mir das rechte Maß.
Das Herz - unruhiges Pulsieren: Bis es ruht in dir.
Die Hände - alles Streicheln und Kratzen: Laß es in Sanftheit münden.
Die Füße - die vielen Wege, begonnene und abgebrochene: Vollendung bei dir!

Die Beichte ist anders als in meinen Kaplansjahren: Es ist ein langes Kennenlernen im Gespräch: Miteinander Krankheit erfahren. Mein Leben, meine Geschichte darf bestehen! Die Hände dürfen zu einer Schale werden, nach oben offen. Schuld, Verzweiflung werden über die psycho-soziale Sicht hinaus aufgefangen, vergeben. In solcher Gottesbegegnung lösen sich oft ungeahnte Eigen-, aber auch Fremdschuld. Wir können heilen. Auch Eltern und Angehörige werden oft sicht- und spürbar entlastet.

"Weißt du was, ich muß dir was sagen, dich kann ich nicht beleidigen. Eltern, Geschwister, Verwandte, Ärzte, Schwestern - alle würde ich beleidigen!" - "Was denn?" - "Ich sterbe bald!"
Das hab' ich nicht erwartet.
"Und dich kann ich nicht beleidigen, deshalb sag' ich dir das!" - Ich hab' umarmt und auf die Stirne geküsst und hoffe, dass ich ein priesterlicher Freund war.

Michael Först

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