ZEITSCHRIFT NESTWERK

Alle Sensoren sind an

 

Weißt du es schon? Am Freitag gehe ich heim. Ganz heim!"
Soll und darf ich zurückfragen, schießt es mir durch den Kopf? Schnell schalte ich: "Deine Eltern bereiten ganz bestimmt alles gut vor!" "Ja, das weiß ich! Sicherlich!"

 

Mit innerer Zufriedenheit unterhalten wir uns. Dieser junge Mensch nimmt mich mit hinein in seine Welt. Da wird gedacht und gelacht. Ein Stück Leben erfahren wir miteinander.. Die Zeit schmilzt dahin, wird zum Zeitraffer.

Da meldet sich in mir wieder seine Frage: "Weißt du es schon? Am Freitag gehe ich heim. Ganz heim!" Die Therapie läuft, hilft mit den Schmerzen zurechtzukommen. Die Nacht hat uns wie mit einem weichen Mantel umhüllt. Leuchtende Augen sagen einander "Gute Nacht!" und die Hände werden stark und fest und sanft. Der Mund bewegt sich kaum. Andere Sensoren, denke ich auf dem Nachhauseweg.

Seit Sonntag denke ich nur noch an den Freitag. Täglich sehen wir uns und wissen um den Freitag. Die Eltern sind beide da und lösen sich ab. Sie geben dem Krankenzimmer eine wohltuende Atmosphäre. Sie schenken Nähe, lassen dem jungen Menschen aber seinen eigenen, not-wendigen Freiraum.

Freitag, morgens, 7.30 Uhr.
"Guten Morgen, Richard! Deine Eltern sind nach Hause gefahren und bereiten alles weiter gut vor!" "Sie kommen bald und holen mich ab. Du bleibst doch so lange hier?"
Mir kommen wieder die Sensoren in den Sinn, ganz andere als die der Apparate. Eine neue Welt zeigt ihr Gesicht: hell, klar, unendlich weit, grenzenlos.
"Weißt du, Michael, du hast doch einmal von der Krankensalbung erzählt. Sie kann auch eine Salbung zur Vollendung sein, hast du gesagt. Ich möchte sie!"
Es gibt wichtige Punkte und Erlebnisse in jedem Menschenleben. Hier geschah eines. "Du, ich hole dazu die geweihten Öle, ich hab sie nicht bei mir!"
"Ja, das ist wichtig!"
Der Weg zur Klinik-Kapelle wird für mich zu einem neuen Weg.
"Ja, jetzt bin ich wieder da und hab auch die geweihten Öle mitgebracht!"
"Das ist gut so. Alle meine Sinne nehme ich mit heim!"
Heiliges hat eine Sprache. Richard, ein junger Mensch, spricht sie mit mir. Wir salben einander all unsere Sinne, all unsere Sensoren:
Den Scheitel und die Stirn und reden über die Steuerung des Menschen.
Die Augen, das Licht nach innen und nach außen.
Die Nase mit allem, was gut riecht oder auch stinkt.
Die Ohren und alle Botschaften, die wir aufgenommen haben.
Den Mund mit allen Worten, die er gesprochen hat.
Den Kehlkopf, wo sich im Menschen Himmel und Erde, Luft und Boden austauschen.
Die Hände mit all ihren Möglichkeiten.
Die Füße und all ihre Wege.
Und das Herz, ruhig und unruhig.

Tiefer Friede hat sich über uns gebreitet, zeitlos, alle Sensoren sind an. Die Eltern spüren es weit entfernt. Am Freitagmittag begleiten sie Richard in die Vollendung seines Lebens. Junge Leute aus seiner Klasse gestalten später seinen Weg zu seinem letzten Ruheort.

Bleiben wir einander nahe.

Michael Först

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